GROSSER TAUBENPOKAL MIT WINZER UND NÜRNBERGER „SCHMECK“
Nürnberg, ca. 1610 Beschauzeichen: N im Rund, Nürnberg ca. 1610 (S.641, BZ13 Nürnberger Goldschmiedekunst 2007), Silber vergoldet
Höhe: 37,5 cm (15 3/4 in.) Dm Fuß: 9,3 cm Dm Lippe: 9,3 cm Gewicht: 575 g
Traubenpokal mit Winzer, Silber vergoldet
Der große, Silber vergoldete Traubenpokal erhebt sich auf einem runden, mehrfach profilierten Fuß, der von glatt polierten Halbkugeln vor punziertem Hintergrund strukturiert wird. Der obere Teil des Fußes verbreitert sich zu einem kugeligen Nodus, aus dem ein knorriger Weinstock zu wachsen scheint. Als Übergang zwischen dem glatt gearbeiteten Fuß und der urwüchsig daraus hervorstrebenden Weinrebe, dient eine aus dünn geschnittenem Blattwerk gebildete, silberne Blattmanschette. Diese setzt sich aus unterschiedlich langen, asymmetrisch angeordneten, in verschiedene Richtungen gebogenen, eingerollten Blättern zusammen. Die unregelmäßige Anordnung wird in den Verwachsungen der Rebe weitergeführt, deren bewusst eingesetzte Asymmetrie den Eindruck der Urwüchsigkeit und Natürlichkeit des Rebstocks fördert. Sie steht in klarem Kontrast zu der völlig symmetrisch angeordneten Dekoration des Fußes sowie der darüber befindlichen, traubenförmig gebildeten Cuppa. Verstärkt wird dieser Kontrast durch eine spiralförmig aufstrebende Weinranke, die die gegossene Figur eines Weingärtners umschlingt. Im Vergleich zu dem mächtig wirkenden Stamm der Rebe wirkt die kleine Figur des Weinbauern hilflos und ohnmächtig. Dieser Eindruck wird durch die in der rechten Hand des „Weinhäckers“ befindliche, geschärfte Axt, mit der er gerade schwungvoll ausholt, spannungsvoll negiert. Der mit dem Zuschnitt und der Pflege des Weines beschäftigte Winzer ist somit deutlich einflussreicher als gedacht. Er ist in bäuerliche Kleidung – eine gegürtete Tunika, Hosen und Stiefel gekleidet und trägt zum Schutz vor der Witterung eine Kappe. Zur horizontalen Gliederung und als Übergang zwischen dem als knorzigen Weinstock gebildeten Röhrenschaft und der fein in Buckeln getriebenen Cuppa, dient ein Kranz aus eingerollten asymmetrisch angebrachten, silbernen Blattranken. Cuppa und Deckel sind mit aufwendig getriebenen Buckeln verziert, die raffiniert, versetzt angebracht und so passgerecht gefertigt wurden, dass der Übergang von der Cuppa zum Deckel kaum mit bloßem Auge zu erkennen ist. Der Lippenrand ist durch herabgezogene Buckel verschleiert. Cuppa und Stülpdeckel bilden gemeinsam eine vollkommen symmetrisch wirkende, nach unten, spitz zulaufende, große Traube. Als Knauf dient eine fein gearbeitete, hohen Vase mit zierlichen gegossenen Schweifwerkvoluten als Henkel, die von einem fein geschnittenen Silberblumenstrauß, dem für Nürnberger Pokale typischen „Nürnberger Schmeck“ bekrönt wird. Das spannungsvolle Wechselspiel von Symmetrie und Asymmetrie, von Natürlichkeit und Künstlichkeit ist bei Elias zur Linden ebenso hervorgehoben wie bei Entwürfen von Albrecht Dürer oder Goldschmiedeobjekten von Wenzel Jamnitzer.
Traubenpokale und ihre Verbreitung
Traubenpokale sind eine Sonderform der sogenannten Buckelpokale, die insbesondere in Nürnberg, aber auch an anderen Orten wie z.B. Lüneburg, Hamburg und Breslau vom letzten Drittel des 16. Jahrhunderts an bis zur Mitte des 17. Jahrhunderts beliebt waren. Der Pokal in Traubenform steht im direkten Bezug zu dem Wein, der bei festlichen zeremoniellen Anlässen von Fürsten und Gesandten daraus getrunken wurde. Das aufwendig gearbeitete Trinkgefäß diente häufig als Ehrengeschenk bei privaten und offiziellen Anlässen. Traubenpokale entstanden in aufwendiger Treibarbeit. Die fein gearbeiteten, virtuos getriebenen Buckel gewährleisteten nicht nur eine größere Stabilität der Gefäße, sondern reflektierten das Kerzenlicht auf faszinierende Art und Weise. Buckelpokale waren in Nürnberg weit verbreitet – dort mussten die Meister seit dem Ende des 15. Jahrhunderts als Meisterstück einen Akeleipokal fertigen, aus dem sich weitere, an der Natur orientierte Pokalformen entwickelten: So ist der Traubenpokal mit Büttenmann und Kiepe, der Winzer als Schaftfigur und der Winzer mit Axt oder „Asthauer“ als Staffagefigur in der Weinrebe hier – unweit der fränkischen Weinanbaugebiete – besonders häufig zu finden. Traubenpokale erforderten eine hohe Geschicklichkeit des Goldschmieds und wurden u.a. von den Nürnberger Goldschmieden Hans Pezolt, Hans Beutmüller, Paulus Bair, Georg (Jörg) Rühl, Hans Weber und Esaias zur Linden angefertigt. Die knorrigen Pokale waren in ganz Europa beliebt, so finden sich heute Traubenpokale in zahlreichen europäischen Museen, die aus ehemaligen fürstlichen Sammlungen hervorgingen: wie zum Beispiel im Victoria & Albert Museum in London, dem Moskauer Kreml, der Ermitage in St. Petersburg und den Staatlichen Kunstsammlungen Dresden. August der Starke schätzte die Traubenpokale sehr – anlässlich seiner Krönung zum König von Polen 1697 in Krakau ließ er neben zahlreichen anderen Gefäßen aus Edelmetall, zehn goldene und Silber vergoldete Traubenpokale auf seinem Ehrenbuffet aufbauen. 1730 befanden sich im Silber vergoldeten Zimmer der Schatzkammer des Grünen Gewölbes in Dresden gar dutzende dieser „knorrigter“ Pokale. Bekrönt waren diese insbesondere in Nürnberg mit dem „Schmeck“, einem Strauß aus geschnittenen Silberblumen und Blättern, der teilweise auch kaltbemalt wurde und laut Kitzlinger (S.201) von speziellen Goldschmiedemeistern, den „Blümleinmachern“, angefertigt wurde. Große Sammlungen von Traubenpokalen besitzen die Staatlichen Kunstsammlungen Dresden, das Germanische Nationalmuseum in Nürnberg und der Moskauer Kremel.
Meister
Von dem Goldschmied Esaias zur Linden haben sich insbesondere kleine, silber-vergoldete Schiffe, sogenannte Nefs erhalten. Tafelschiffe dienten seit dem 14. Jahrhundert an Fürstenhöfen als Tafeldekoration oder Schauobjekt auf dem Buffet. Tafelschiffe aus Nürnberg sind seit Anfang des 16. Jahrhunderts bekannt. Viele dieser erhaltenen Schiffe stammen von Esaias zur Linden. Neben Trinkschiffen auf Rädern und Schiffspokalen schuf der bedeutende Nürnberger Meister mehrere Humpen, Kredenzen, die Fassung zweier Bergkristallpokale, eine Rhinozeroshornschale und mehrere Traubenpokale. Interessant ist insbesondere ein Pokal im Victoria & Albert Museum in London, Inv.-Nr.M370&A-1910, aus dem Jahre 1609, der mit unserem fast identisch ist. Obwohl es sich um einen Traubenpokal handelt, wird er auf der Internetseite offiziell als „Pineapple Cup and Cover“ bezeichnet: Wie der vorliegende Pokal setzt er sich aus einem runden Fuß mit halbrunden Buckeln, einer knorrigen Weinrebe, einem mit Axt bewaffneten Winzer, einer etwas weniger spitz zulaufenden Traube, sowie einer bekrönenden Henkelvase mit „Nürnberger Schmeck“ zusammen und ist mit 35 cm nur unwesentlich kleiner als unser Traubenpokal. Möglicherweise waren beide Traubenpokale ursprünglich als Pendant gedacht. Esaias zur Lindens Goldschmiedearbeiten sind heute weitestgehend auf große europäische Kunstsammlungen verteilt: Neben dem Victoria & Albert Museum in London befinden sich seine Objekte im Nationalmuseet Kopenhagen, der Eremitage St. Petersburg, dem Kreml Museum in Moskau, dem Württembergischen Landesmuseum Stuttgart, dem Schweizerischen Landesmuseum Zürich, dem Hessischen Landesmuseum Kassel, dem Kunsthistorischen Museum Wien, den Staatlichen Kunstsammlungen im Krakauer Wawel Schloß und weiteren bedeutenden europäischen Sammlungen.
Provenienz
Der Traubenpokal befand sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts in der COLLEZIONE S. BULGARI ROMA, die dem griechischen Goldschmied, Schmuck- und Antiquitätenhändler Sotirio Bulgari (gest. 1934) gehörte. Dieser kam 1881 nach Rom, gründete 1905 einen „Old Curiosity Shop“, der vor allem Kunden aus den USA und Großbritannien anzog, bevor er sich ab 1915 vor allem dem Verkauf von Schmuck widmete. Seinen letzten Aufstellungsort hatte der Pokal in der New Yorker Privatsammlung von Ezra & Cecile Zilkha. Deren Appartement an der Fifth Avenue, mit Blick auf den Central Park, war im Stil einer Pariser Villa eingerichtet, ausgestattet mit Möbeln des 18. Jahrhunderts, Gemälden alter Meister, europäischem Silber des 16.–18. Jahrhunderts und chinesischem Porzellan. Die Zilkhas, eine prominente, internationale Bankiersfamilie, deren Wertschätzung und Leidenschaft für Kunst, Geschichte und Kultur sich in jedem ihrer Ausstattungsgegenstände widerspiegelte, empfing dort internationale Diplomaten, Künstler, Politiker und Geschäftsleute. Zusammen mit weiteren Goldschmiedearbeiten und Skulpturen bildete der Traubenpokal ein wichtiges Ausstellungsobjekt im Grünen Salon des als Gesamtkunstwerk eingerichteten New Yorker Appartements.
Zu Trinkgewohnheiten und Pokalen in der Renaissance und im Barock siehe Pokal in Muschelform
Literatur
Bachtler, M., Syndram, D. und Weinhold, U. (Hrsg.): Die Faszination des Sammelns: Meisterwerke der Goldschmiedekunst aus der Sammlung Rudolf-August Oetker, Kat. Ausst. München/Dresden, München 2011, S. 114–115, Kat. Nr. 20. (Esaias zur Linden)
Bott, G. (Hrsg.): Wenzel Jamnitzer und die Nürnberger Goldschmiedekunst 1500–1700. Goldschmiedearbeiten – Entwürfe, Modelle, Medaillen, Ornamentstiche, Schmuck, Porträts, Kat. Ausst. Nürnberg, München 1985, S. 269, Kat. Nr. 96; S. 286, Kat. Nr. 141. (Traubenpokal)
Kitzlinger C.: Die Natur als Vorbild – Früchte, Pflanzen und Tiere als Formgeber in der Goldschmiedekunst, in: Kat. Ausst. Faszination des Sammelns, 2011, S.198–221, insb. S. 201 (Der Traubenpokal), S. 210–211, Kat. Nr. 51; S. 212–213, Kat. Nr. 52.
Oman C.: Medieval Silver Nefs, Victoria and Albert Museum, London 1963. (Fig. 7, zu Esaias zur Linden).
Rosenberg M.: Der Goldschmiede Merkzeichen, 4 Bde., [Nachdr. der Ausg.] Frankfurt/M. 1922–1928. (MZ4135)
Schürer, R.: Der Akeleypokal, Überlegungen zu einem Meisterstück, in: Wenzel Jamnitzer, Kat. Ausst. Nürnberg 1985, S. 107–122.
Tebbe, K. u.a.: Nürnberger Goldschmiedekunst 1541–1868, Band I, Meister, Werke, Marken, Teil 1: Textband, Nürnberg 2007, S. 256-258, MZ0527a; S. 641, BZ13.
Tebbe, K. u.a.: Nürnberger Goldschmiedekunst 1541–1868, Band I, Meister, Werke, Marken, Teil 2: Tafeln, Nürnberg 2007, Abb. 124, 125, 127 (Schiffe von Esaias zur Linden), Abb. 419–428, Abb. 432. (Traubenpokal)
Tebbe, K. u.a.: Nürnberger Goldschmiedekunst 1541–1868, Band II, Goldglanz und Silberstrahl, Nürnberg 2007, S. 153, Abb. 118. (Esaias zur Linden)
Tebbe, K.: Trinken und Tafeln. Silbergefäße für den profanen Gebrauch, in Nürnberger Goldschmiedekunst 2007, Bd. II, S. 165–195, insb. S. 167–182, Abb. 154. (Traubenpokal)
Online-Links (Traubenpokale):
https://skd-online-collection.skd.museum/Details/Index/117192
https://skd-online-collection.skd.museum/Details/Index/117213
https://skd-online-collection.skd.museum/Details/Index/117204
https://skd-online-collection.skd.museum/Details/Index/117203
https://collectiononline.kreml.ru/en/cross-search?query=herden%20hans
https://collectiononline.kreml.ru/en/entity/OBJECT/59976?query=jorg%20ruel&index=0
https://www.hermitagemuseum.org/wps/portal/hermitage/digital-collection/08.+applied+arts/141377